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Ich, die Nummer 1513


Anlässlich der Vernissage von Erika Havlicek-Strunz am 7. Mai 2004 las Frau Mag. Christine Maisel-Schulz aus ihren Erinnerungen an ihren Erholungsaufenthalt in Spanien von 1949.

Mag. Christine Maisel-Schulz Fast 6 Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges ist es wahrscheinlich heute, wo alles in Überfluss vorhanden ist, sehr schwer, sich in die damalige Situation der Nachkriegszeit hineinzudenken. In den Städten Bombenruinen, Flüchtlinge, Hunger, keine Medikamente.
Lebensmittel zugeteilt mit Marken. Ums Brot und um die Milch musste man sich stundenlang anstellen und dann war man noch nicht einmal sicher, ob man etwas bekommt. Am Sonntag ging man hamstern. Die meisten von Ihnen werden nicht mehr wissen, was das ist. Lassen Sie mich das erklären. Man hat von dem wenigen, das man hatte, alte Sachen genommen und ist mit dem Rad oder zu Fuß, denn öffentliche Verkehrmittel konnte man sich nicht leisten, ins nahe Umfeld von Wien zu Bauern gefahren und hat dann seine Sachen gegen Kartoffel oder gegen ¼ kg Butter eingetauscht. Hat man einmal ein Stück Speck bekommen, dann war
das wie Weihnachten und Ostern zu gleich. Übergewicht? Das kannte man nicht. Untergewichtig waren wir alle, manche schon so sehr, dass es lebensbedrohlich war. Wir bekamen Lebertran – eine grausliche Sache, das wurde im Mund immer mehr und am liebsten hätte man es wieder ausgespuckt. Die Bauern und die Leute am Land hatten Mitleid mit den Wiener Kindern und so gab es von der Caritas die so genannten „Kinderlandverschickungen“. Eine Bezeichnung, die im heutigen Sprachgebrauch Verwunderung und Missfallen auslöst, denn verschicken tut man ja einen Brief oder ein Paket aber nicht ein Kind. Aber das war eben die Bezeichnung und wir waren froh, dass es das gab. Das erste Mal wurde ich mit 5 Jahren nach Vorarlberg „verschickt“, damit ich für den Schulanfang noch ein wenig etwas zusetzen konnte. Mit meiner Vorarlberger Gastfamilie habe ich heute noch freundschaftlichen Kontakt. In Vorarlberg habe ich in den 6 Monaten meines Aufenthaltes eigentlich meine erste Fremdsprache gelernt und als ich nach diesen 6 Monaten von meinem Vater am Westbahnhof abgeholt wurde und ich zu ihm aufblickte und sagte „Deta lupf mi ufe“ hat er mich nicht verstanden.

Die Versorgung in Wien wurde zwischen 1946 und 1949 nicht gerade besser. Viele Kinder waren durch die dauernde Unterversorgung und durch die Nächte in den Luftschutzkellern auch schwer krank. Die Abwehrkräfte haben gefehlt. Auch mich hat es mit 8 Jahren schwer erwischt. Vom Schularzt wurde jedes Jahr bei allen Kindern eine Lungenprobe gemacht, da klebte man uns ein Pflaster mit irgendeiner Substanz auf die Brust und nach zwei, drei Tagen konnte man eine Reaktion sehen. Das war für mich immer eine grausame Sache. Die meisten meiner Schulkolleginnen hatten keine Reaktion, aber bei mir war es rundherum eitrig und das Ablösen des Pflasters war die reinste Tortour. Die Diagnose lautete „Tuberkulose“ und ich war damit ohne Medikamente praktisch dem Tod geweiht. Unser Hausarzt wollte mich nicht auf die Baumgartner Höhe einweisen, denn er meinte, dass dort auch ansteckende Fälle sind und ich das nicht überleben würde. Ich hatte mit 9 Jahren 19 kg! Das war schwerstens untergewichtig. Meine einzige Chance war es, einen Winter im Süden zu verbringen. Also wurde ich wieder „verschickt“, u. zw. dieses Mal nach Spanien. Erst viel später habe ich von meiner Mutter erfahren, dass die Ärzte mich für nicht transportfähig erklärten und sie einen Revers unterschreiben musste, falls ich unterwegs sterbe, sie die Überführungskosten tragen müsse oder man mich vor Ort begraben würde. Dass meine Mutter dann natürlich beim Abschied bitter geweint hat – und ich mit ihr – ist auch verständlich. Aber dank der Kinderlandverschickungen lebe ich – wie Sie sehen – auch heute noch.

Eine kleine Begebenheit möchte ich an dieser Stelle noch erzählen: Wir hatten im 14. Bezirk in der Nähe unserer Zimmer/Küche/Kabinett-Wohnung einen kleinen Schrebergarten. Unser Vater pflanzte dort bei der Geburt für jedes Kind einen Baum. Für meine älteste Schwester war es ein Zwetschkenbaum, der sehr hochgeschossen war – genau wie meine Schwester Resi. Für die mittlere Schwester war es ein Marillenbaum, der herrliche Früchte trug, vollbackig wie meine Schwester Fini war und für mich hat Vater einen Pfirsichbaum gepflanzt, der nicht und nicht wachsen wollte – er war ein richtiges „Zniachterl“ und 1949, genau damals als ich sterbens krank war, ist er eingegangen.

Die Vorbereitungen

Die Vorbereitungen auf die Reise waren keine einfache Sache. Impfungen ohne Ende, die mich jedes Mal mehrere Tage total krank machten. Laufereien zu Untersuchungen, Dokumente und Reisepapiere besorgen. Für jedes Land auf der Durchreise brauchte man damals ein Visum und auch innerhalb Österreichs zusätzlich noch für die einzelnen Zonen der alliierten Besatzungsmächte. Alles musste man natürlich zu Fuß machen, denn Straßenbahn, das konnten wir uns nicht leisten. Endlich war alles beisammen. Auf einer rose Karte, die wir auf der Reise immer umgehängt tragen mussten, standen alle unsere Daten, auch die Waggon- und Abteilnummer und ganz wichtig war natürlich, dass jedes Kind eine Nummer hatte. Ich war die Nummer 1513. Wir bekamen eine Liste mit allem was mitzunehmen war und in jedem Wäschestück, jedem Taschentuch, überall musste diese Nummer eingenäht oder markiert sein. U. a. mussten wir auch einen Bogen Packpapier mitnehmen, der als Schlafunterlage des Nachts am Boden ausgebreitet wurde. Auch eine Essnapf und ein Löffel für die Ausspeisung gehörte zu unseren Habseligkeiten.

Die Reise

Dann kam der Abschied im Oktober 1949. Ein langer Zug stand am Westbahnhof mit so erbärmlichen Waggons, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Damals waren die Züge noch überfüllt und oftmals sah man Leute sogar am Trittbrett hängen, manche saßen sogar am Dach. Die Abteile hatten Holzbänke. In einem solchen Abteil dritter Klasse saßen normalerweise 8 Leute, wir waren aber sicherlich mindestens 10 Kinder und mehr hineingepfercht. Gepäck hatten wir ja nicht viel, denn die wenigen Habseligkeiten hatten in einem ganz kleinen Köfferchen Platz. Privilegiert waren jene, die auf den Bänken schlafen durften. Weil ich so zart und klein war, durfte ich oben im Gepäcksnetz meinen Schlafplatz einrichten. Das war echt toll, ich konnte alles aus der Vogelperspektive beobachten und hatte von da oben einen richtigen Überblick über das ganze Geschehen. Aber was noch wichtiger war, es konnte niemand in der Nacht auf mich draufsteigen, denn überall am Boden lagen die Kinder. Die hygienischen Verhältnisse waren natürlich auch nicht mit heute zu vergleichen. Aber da möchte ich nicht weiter ins Detail gehen.

An zwei Begebenheiten von der langen Reise erinnere ich mich besonders. Das eine war am zweiten oder vielleicht sogar bereits am dritten Tag, da ging ein Jaulen durch den Zug – „das Meer“ - und alles stürmte zu den Fenstern auf der linken Seite – das erste Mal, dass wir Meer sahen! Es muss zwischen Genua und Monaco gewesen sein. Für uns war das damals eine Sensation und es war unvorstellbar, wo das Meer hinter dem Horizont enden würde.

Das zweite nachhaltige Ereignis war, dass wir einen Stopp in Lourdes machten. Herrlich! Wir durften aussteigen und wieder einmal festen Boden unter den Füssen haben. Das Rattern des Zuges spürte man damals noch tagelang unter den Füssen. In Zweierreihen gingen wir zur Grotte und hatten dort auch eine Messe. Ich habe damals sehr inbrünstig darum gebetet, dass mich in Spanien eine liebe Familie aufnehmen würde. Hier war es auch das erste Mal, dass wir nicht nur Leute in einer anderen Sprache reden hörten, sondern auch das ganze Umfeld war uns fremd – man konnte nur staunen…..

An der spanischen Grenze in Irun mussten wir umsteigen, was eine riesige Prozedur mit Hunderten von Kindern war. Der Grund war, dass in Spanien die Spurbreite der Eisenbahn eine andere ist. Heute wird die Spurbreite bei den modernen Zügen während der Fahrt angepaßt, aber das war damals noch undenkbar.

Dann kamen wir in Pamplona in Quarantäne – das war für mich ein Trauma. Angeblich damals das modernste Jugendheim Europas, darauf waren die Spanier stolz. Wir wurden alle neu eingekleidet und alle unsere Sachen wurden uns weggenommen und desinfiziert. Alles war klinisch sauber. Schlafsäle mit 20 oder 24 Betten, Fliesenboden, der täglich geschrubbt wurde. Es musste „Zucht und Ordnung“ herrschen, wie beim Militär oder besser gesagt wie in einem Strafgefangenenlager. Ich hatte panische Angst. Wenn irgendwo die Regeln nicht eingehalten wurden oder gar etwas gestohlen wurde, gab es im gesamten Schlafsaal Kollektivstrafe und manche Kinder wurden sogar ausgepeitscht. Für mich waren diese 2 oder 3 Wochen ein Horror. Manchmal habe ich des Nachts in den Polster hinein geweint und ich hatte furchtbares Heimweh. Dann kamen die Tage, wo wir jeden Morgen im großen Hof wie beim Militär in Reih und Glied antreten mussten. Nummern wurden aufgerufen. Das Kind mit der jeweiligen Nummer musste vortreten und alle an diesem Tag aufgerufenen Kinder wurden – ohne dass wir uns verabschieden konnten – sofort abtransportiert. Wohin, das wusste niemand. Dass da natürlich auch Erinnerungen an Deportationen im Krieg wach gerufen wurden, versteht sich! Irgendwann hieß es auch „1513 vortreten“. Ich zitterte am ganzen Leib, was jetzt mit mir passieren würde. Ich bekam wieder mein Köfferchen mit all meinen desinfizierten Sachen und ab ging die Fahrt mit vielen anderen Kindern in Richtung Valencia. In Castellon de la Plana mussten wir von einigen lieb gewonnen Freunden schnell Abschied nehmen. Wahrscheinlich war damals auch die Schwester von Frau GR Mondl dabei, jene Künstlerin, von der heute hier die Werke ausgestellt sind. Gemeinsam mit 4 anderen Mädchen wurden wir von einem Pfarrer übernommen und die Fahrt ging mit einem alten klapprigen Autobus über staubige, teilweise unbefestigte Straßen hinauf in die Valencianischen Berge, wo wir gegen Mitternacht in dem kleinen Dorf Forcall ankamen. Es gab damals noch einen Nachtwächter, der nach unserer Ankunft auf die Melodie „Hört Ihr Leut’ und lasst Euch sagen …..“ ausgerufen hat, dass der Pfarrer mit den 5 österreichischen Kindern eingetroffen ist und die Familien die Kinder abholen sollen. Leute kamen und suchten sich ein Kind aus. Der Pfarrer hat sich gleich selbst das best genährte Kind behalten. Mich wollte niemand, denn ich sah ja wirklich mit meinen 19 kg gotterbärmlich aus. Dann kam als letztes ein altes Ehepaar und denen blieb demnach nichts anderes übrig, als mich zu nehmen. Zunächst war ich eigentlich entsetzt, dass ich zu so alten Leuten komme aber zu diesem Zeitpunkt war mir alles ziemlich egal. Ich wollte nur ein Bett und schlafen, schlafen, schlafen… Zu diesem Zeitpunkt konnte ich natürlich nicht wissen, dass ich den besten Platz, den man sich nur wünschen konnte, bekommen hatte. Mein Pflegevater war der große „Patrone“ des Ortes. Altbürgermeister und Fabrikant. Praktisch das ganze Dorf hatte direkt oder indirekt durch ihn das Einkommen. Er hatte eine Erzeugung von Espandrillos, das sind Leinenschuhe mit einer Hanfsohle, wie man sie auch bei uns heute bekommen kann. Dass daher natürlich das ganze Dorf lieb zu mir war, verstand sich von selbst.

Meine Pflegefamilie

Mein Pflegevater war aus einer Familie mit 9 Kindern, er hatte 7 Brüder und eine Schwester. Alle 7 Brüder sind Priester geworden und die Schwester ging ins Kloster. Er selbst war der einzige, der für Nachkommen sorgte. Von Pflegemutter’s Abstammung erfuhr ich eigentlich nie etwas. Die beiden hatten selbst auch wiederum 7 Kinder, wovon ebenfalls ein Sohn Priester wurde und zwei Töchter ins Kloster gingen. Inzwischen gibt es in dieser Familie insgesamt 3 Seligsprechungen! Zur letzten, die am 3. Oktober 1995 in Rom stattfand, wurde ich auch eingeladen und damals habe ich zuletzt die gesamte Familie in Rom getroffen – es war ein schönes Erlebnis.

Die Eingewöhnung

Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft, als ich in meinem Himmelbett aufwachte, begrüßten mich meine Pflegeeltern mit „Buonos dias“, also antwortete ich auch „Buonos dias“. Vom ersten Moment an empfand ich eine unglaubliche Geborgenheit und fühlte mich sehr wohl. Meine Pflegemutter war für mein leibliches Wohl zuständig und mein Pflegevater für mein psychisches Wohl. Er war auch mein Spanischlehrer und das begann gleich am ersten Tag. Nach dem ausgiebigen Frühstück – es schmeckte alles köstlich und alles war in Überfluss vorhanden – nahm er einen Zettel und einen Bleistift und ging mit mir durchs Haus, zeigt auf verschiedene Gegenstände, schrieb das entsprechende spanische Wort auf, gab mir den Bleistift und ich schrieb das jeweilige deutsche Wort daneben. Nach so 30 oder 40 gemeinsam erarbeiteten Vokabeln stellte er mir „el sillón“ – den Sessel – auf die Terrasse, drückte mir den Zettel in die Hand und damit wusste ich, dass ich nun die Vokabeln lernen sollte. So ging das jeden Tag weiter. Ich lernte spielerisch und bald begann er mit mir auch Sätze zu bilden. So kam es, dass ich schon nach ca. 2 Wochen in die normale einklassige Volksschule gehen konnte. 4 Klassen in einem Raum – für mich war es die 4. Klasse Volksschule. Vorne saßen die Kleinen und hinten die Großen und wechselweise beschäftigte sich die Lehrerin – natürlich war das auch eine Klosterschwester – mit der vorderen Gruppe oder mit der hinteren. Wir 5 österreichischen Kinder saßen in der letzten Bank und hinter uns war gleich die Ausgangstür. Wenn uns fad war, nützten wir einen Moment der Unaufmerksamkeit unserer Lehrerin und husch hinaus. Unsere Spielwiese war in Forcall die ganze Umgebung. Es war prächtig – wir hatten eine unglaubliche Freiheit, die wir voll auskosteten und die wir als Stadtkinder nicht kannten.

Das Dorf

Das Dorf hatte einen sehr großen rechteckigen Hauptplatz, rundherum eine geschlossene Häuserfront mit schönen Arkaden, die in der Hitze angenehmen Schatten spenden. Vom Hauptplatz weg gingen enge Gassen. Die Heimarbeiter, die für meinen Pflegevater arbeiteten, saßen in diesen Gassen vor ihren Häusern und es wurde bei der Arbeit geplaudert oder auch gesungen. Das gesamte Dorf lag auf einer Anhöhe und rund ums Dorf waren zum Fluss hinunter auf den Abhängen Felder in Terrassenform angelegt, die mit einem ausgeklügelten System künstlich bewässert wurden. Jeweils unterhalb jeder 1 bis 2 Meter hohen Stützmauer war ein ca. 1 Meter breiter Wassergraben zur Bewässerung. Diese Terrassenfelder mit den Mauern und Wassergräben waren unser beliebtester Spielplatz. Unser Sport und auch unsere Mutprobe war es, über diese Mauern zu laufen und über die Wassergräben zu springen, was gelegentlich natürlich misslang und dann war man, zur Gaudi von allen andern, patschnass, musste es zu Hause eingestehen, wurde zwar ein wenig zusammengeschimpft aber so richtig böse war man auf uns nie. Nach einem Regen krochen über die Mauern Weinbergschnecken hoch und wir Kinder bekamen einen Jutesack und sollten diese Schnecken einsammeln, die dann zu einem köstlichen Mahl mit einer herrlichen Sauce zu Hause zubereitet wurden – ein Festmahl für die Spanier! Von unten konnte man die Schnecken natürlich nicht erreichen, denn da war ja der Wassergraben, also musste das von oben geschehen. Man legte sich auf den Bauch und streckte sich nach den Schnecken hinunter indem eine andere die Füße hielt. Einmal hat sich eine den Spaß erlaubt und die Füße ausgelassen und die am Bauch lag fiel dann natürlich kopfüber hinunter ins Wasser. Die Missetäterin hat das kein zweites Mal gemacht, denn sie wurde tagelang aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und alle waren bitter böse auf sie.

Mein Frühstück

Ich bekam täglich zum Frühstück einen gekochten Bauchfilz vom Schwein. Ein Stück so in der Größe eines Punschkrapferls (ca. 5 x 5 x 5 cm). Das hat richtig gewackelt, so fett war es. Es war für mich die reinste Delikatesse anstatt des grauslichen Lebertrans in Österreich. Ich habe das mit einer Begeisterung gegessen, doch nach 5 oder 6 Monaten hatte ich von einem Tag zum anderen genug davon, ich konnte es nicht einmal mehr sehen! Das dürfte dann auch der Zeitpunkt gewesen sein, wo ich es nicht mehr gebraucht habe, weil mein Heilungsprozess bereits gut fortgeschritten war.

Die Spanier und ihre Feste

In Spanien gab es natürlich auch große Feste. Die Spanier verstehen es wirklich die Feste zu feiern. Das gehört zum Leben dazu – Hochzeiten, Taufen, Firmung, Kommunion, Weihnachten, Ostern. Zu diesen Anlässen kommt immer die ganze Großfamilie zusammen. Vor so einem größeren Fest wurden bei uns immer ein oder mehrere Schweine geschlachtet. Die Tiere taten mir immer sehr leid. Das Schlachten, das Abbrennen der Haut und das Zerlegen war Aufgabe der Männer. Wir Kinder bekamen die Blas vom Schwein, diese wurde aufgeblasen und das war dann zunächst eine Art Luftballon und wenn sie trocken wurde, konnte man damit Ballspielen. Meistens bekam ich diesen „Ballon“, der dann später zum „Ball“ wurde, denn ich war ja der besondere Schützling vom großen „Patrone“. Das Verarbeiten des Fleisches war Aufgabe der Frauen. Es wurde geräuchert, getrocknet oder geselcht. Blutwürste wurden verarbeitet und in die gereinigten Därme gefüllt und am Dachboden zum Trocknen aufgehängt. Es waren herrliche Würstel. Unter Appetitlosigkeit wie in Wien habe ich in dieser Zeit in Spanien nie gelitten. So kam es, dass ich gut genährt nach ca. 10 Monaten von 19 auf 29 kg zugenommen hatte, was zwar noch immer untergewichtig war aber am wichtigsten war, dass ich aus Spanien vollkommen geheilt zurückkam. Nach meiner Rückkehr sagte der Röntgenologe „wenn ich das Kind nicht vorher selbst untersucht hätte, würde ich glauben, das sei ein Irrtum“.

An Weihnachten in Spanien kann ich mich nicht mehr so richtig erinnern, außer dass die jüngsten Pflegegeschwister in den Ferien aus dem Internat in Valencia nach Hause kamen und sich dann ziemliche Eifersucht breit machte. Bedeutender als Weihnachten war die Epiphanie – das Fest der Heiligen Drei Könige, die uns Geschenke brachten. Ich wurde mit wunderschönen Sachen beschenkt und von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Das größte Fest in Spanien war aber Ostern und davor die „Semana Santa“ - die Karwoche. Am Karfreitag wurde der Kreuzweg in unserem kleinen Ort mit seinen ca. 1000 Einwohnern theatralisch nachgespielt, es gingen sogar Männer mit, die Selbstgeißelung machten. Alles war schaurig anzusehen. Aber dann kam Ostersonntag – ein riesiges Fest mit Musik, Tanz, Essen, Trinken. Beim Trinken gab es auch eine mir fremde Gewohnheit. Der selbst gemachte Hauswein wurde in einer Glas- oder Tonkaraffe gereicht, die 2 Henkel hatte und einen langen spitzen Ausguss, aus dem man, ohne am Mund anzusetzen, in einem weiten Bogen den Wein in den Mund laufen ließ. Ich musste jedes Mal darüber lachen und wenn ich es selbst probiert habe, war ich immer von oben bis unten nass.  

Der Dorfbrunnen

Es gab zu der Zeit noch keine Wasserleitung. Das Wasser musste vom Dorfbrunnen am Hauptplatz mit Krügen geholt werden. Wenn man irgendwohin ging, war es üblich, seinen Tonkrug beim Dorfbrunnen abzustellen und am Rückweg wurde der mit Wasser befüllte Krug entweder auf der Hüfte oder auf dem Kopf nach Hause getragen und das Wasser in eine Zisterne geschüttet. Auch wir Kinder hatten einen kleinen Krug und mussten auch unser Scherflein dazu beitragen. Erst 1959 bekam das Dorf eine Wasserleitung zu jedem Haus. Die Frauen gingen damals auch noch die Wäsche zum Fluss waschen. Natürlich hatte dadurch die Hygiene einen sehr niedrigen Standard. Badezimmer gab es nicht und eine Ganzkörperwäsche gab es nur zu den Feiertagen. Die Toiletten waren wie Balkone an die Häuser angebaut und es ging im freien Fall zwei Stockwerke tief hinunter in den Schweinestall. Aber das alles war nicht so wichtig. Viel wichtiger war die Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit dieser Menschen mit der wir aufgenommen und versorgt wurden. Es waren wirklich wunderbare Monate in einer grenzenlosen Freiheit und in einem wunderbaren Land mit einer herrlichen Vegetation, Mandelblüte, Orangen- und Olivenhaine, Bananen, Palmen, Meer und köstlichem Essen in Hülle und Fülle.

Ich habe schweren Herzens Abschied genommen. Meine Pflegeeltern gaben mir denn auch über 50 kg Lebensmittel mit und eine ganze Traube Bananen. Das wurde im Gepäckswagon transportiert und mein Vater musste es in Wien vom Franz Josefs-Bahnhof abholen. Auto gab es nicht und so fuhr er mit einem Leiterwagen vom 14. bis in den 9.Bezirk, um all die guten Sachen abzuholen. Die Bananen, das war hier vollkommen neu aber es hat allen köstlich geschmeckt.

1969, 20 Jahre später, habe ich meine Gastfamilie in Spanien wieder besucht. Zunächst dachte ich, dass man sich vielleicht meiner gar nicht mehr erinnern könne. Na, da habe ich mich aber gehörig geirrt! Es wurde ein riesiges Fest zu meinen Ehren veranstaltet und bei einer zufällig stattfindenden Hochzeit war ich der Ehrengast. In einer stillen Minute nahm mich mein Pflegevater an der Hand, ging mit mir in das Gästezimmer, in dem auch der Hausaltar der Familie war, öffnete eine Kommode in der die Wertsachen der Familie aufbewahrt waren und zeigte mir ein Päckchen, das mit einer großen rosa Schleife zusammengebunden war. Darauf stand „Christina“. Es waren darin alle Schriftstücke, Briefe, Fotos, Befunde und was es sonst noch von der Nummer 1513 gab, das er fein säuberlich aufbewahrt hat. Ich war wirklich gerührt.

Und so möchte ich diesen Artikel als ein kleines Dankeschön im Namen von hunderten österreichischen Kindern an diese wunderbaren Menschen verstanden wissen aber auch als ein Dankeschön an die Caritas, die in dieser Notzeit diese Kinderlandverschickungen für uns organisiert hat und vielleicht damit vielen Wiener Kindern das Leben gerettet hat.


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