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Über die "Stadt des Kindes"


Prinzip Hoffnung

Von Christian Kühn (Die Presse, Spectrum, 14.08.2004)

Lange galt sie als Wiener Vorzeigeprojekt mit Symbolkraft: die "Stadt
des Kindes". Jetzt soll sie verkauft und umgenutzt werden. Das
Denkmalamt zieht sich aus der Affäre. Ein Plädoyer gegen die Macht der
schleichenden Sachzwänge.

Es war einmal eine Stadt, die wollte ein Zeichen setzen. Anlässlich
des 50. Geburtstags der Republik Österreich im Jahr 1969 beschloss die
Stadt Wien, in Penzing, an der Wiener Westeinfahrt, ein Kinderheim zu
errichten, wie es die Welt bisher nicht gesehen hatte: keine
Bewahrungsanstalt für "schwer erziehbare Kinder", sondern eine zur
Umgebung hin offene Struktur mit Einrichtungen wie Schwimmbad und
Sporthalle, Theater und Café, die allen Bewohnern des Bezirks offen
stehen sollten. Schlafsäle sollte es keine mehr geben, sondern
Familieneinheiten nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer, freilich
als "Stadt des Kindes" in eine urbane Form übertragen.

Das Zeichen, das hier unter der Patronage der damaligen Stadträtin für
Soziales, Maria Jacobi, gesetzt wurde, sollte nicht zuletzt die
Reformfähigkeit der Wiener Sozialisten signalisieren. Während die
junge Generation nach 1968 den langen Marsch durch die Institutionen
antrat, der sie inzwischen zu Bürgermeistern und Stadträten gemacht
hat, versuchten die alten Institutionen mit derartigen Projekten, neue
Wege zu gehen. Es ist bezeichnend, dass die "Stadt des Kindes" aus dem
Magistrat ausgegliedert und einem unabhängigen Verein übertragen
wurde, der außerhalb eingefahrener Bahnen agieren durfte.

Das Ergebnis ist eines jener Bauwerke geworden, denen Ernst Bloch in
seiner unter dem Titel "Das Prinzip Hoffnung" erschienenen Geschichte
der Utopie ein eigenes Kapitel widmet: "Bauten, die eine bessere Welt
abbilden". Die "Stadt des Kindes", wie sie 1969 bis 1974 nach den
Plänen von Anton Schweighofer errichtet wurde, symbolisiert eine
wohlgeordnete und sichere Welt, die als letzter Abglanz der heroischen
Zeiten des Roten Wien gesehen werden kann.

Die Abstufung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen
ist vorbildlich gelöst, die Nutzungen sind sinnvoll zugeordnet und
durch ein Wegesystem auf mehreren Ebenen verflochten, das sich durch
die Spannung zwischen klarer Orientierung und überraschenden Wendungen
auszeichnet. Entlang der Hauptachse stapeln sich Wege, Brücken und
Treppen, ein schwebender Baldachin aus rot gestrichenem Stahl
begleitet die Zugänge zu den Wohnungen und folgt dem sanft abfallenden
Gelände. In der Mitte der Anlage verdichtet sich der Raum zu einem
Labyrinth, in dem man sich geschützt, aber nicht gefangen fühlt.

Die Familiengruppen sind in fünf südseitig orientierten Wohnblöcken
untergebracht, die in der Ansicht wie freundliche Riesen mit einladend
geöffneten Armen aussehen. Die Innentreppen der Wohneinheiten zeichnen
sich nach außen als schräge Glasprismen ab, auf denen die weiß
gestrichenen Betonkuben der Obergeschosse zu ruhen scheinen. Jede
Wohneinheit hat direkten Blick auf die Bäume des angrenzenden Parks
sowie kleine Gärten und Terrassen als individuelle Freibereiche.

Dass diese scheinbar idealen Voraussetzungen nicht zum gewünschten
pädagogischen Erfolg geführt haben, hat viele Gründe. Schon bald nach
der Eröffnung wurde die "Stadt des Kindes" wieder in die Strukturen
des Magistrats integriert und als "normales" Heim betrieben, das mit
den selben Problemen in Bezug auf Drogen und Gewalt zu kämpfen hatte
wie andere Großheime. Als die Stadt Wien in den 1990er-Jahren
beschloss, alle Heime zu schließen und nur noch kleine, in normale
Wohnbauten integrierte Einheiten zu betreiben, wurden die Bewohner
der "Stadt des Kindes" sukzessive abgesiedelt. 2002 wurde das Heim
endgültig geschlossen, mit ihm die öffentlichen Einrichtungen wie
Theater und Schwimmbad.

Warum die Stadt Wien mit dieser Anlage nichts Besseres anzufangen
weiß, als sie an Private zu verkaufen, ist schwer nachzuvollziehen.
Immerhin hat die "Stadt des Kindes" für eine bestimmte Epoche
denselben Symbolwert wie der Karl-Marx-Hof für eine andere. Es hätte
sich aber - so behaupten zumindest die Verantwortlichen der Gemeinde -
beim besten Willen keine adäquate öffentliche Nutzung gefunden.
Bereits im Frühjahr 2002 wurde ein Auswahlverfahren ausgelobt, bei dem
Investoren eingeladen wurden, Vorschläge für die Verwertung des Areals
und der Gebäude einzureichen und einen Kaufpreis zu bieten. Als Sieger
aus diesem Verfahren ging die Arbeitsgemeinschaft der Bauträger Wiener
Heim/Mischek und Arwag mit einem Angebot von 4,7 Millionen Euro
hervor. Das architektonische und städtebauliche Konzept dazu stammte
von Margarete Cufer. Der entsprechende Bebauungsplan mit flankierenden
Wohngebäuden wurde vor wenigen Wochen im Gemeinderat beschlossen.

Verkauft ist die "Stadt des Kindes" aber bis heute nicht, und unklar
ist auch, wie der Altbestand tatsächlich saniert und adaptiert werden
soll. Wer die öffentlichen Einrichtungen betreiben wird und ob
Bereiche wie das Schwimmbad je wieder zu bezahlbaren Preisen
zugänglich sein werden, ist ebenso offen. Zwar wird von allen Seiten
der gute Wille zu einem sensiblen Umgang mit der Substanz beteuert und
darauf verwiesen, dass Anton Schweighofer ja als Berater und Juror in
das Projekt eingebunden bleibe. Ob nach einem Verkauf der Druck der
Sachzwänge nicht doch zu groben Veränderungen führen wird, ist aber
nicht abzusehen.

Klare Verhältnisse könnte hier das Denkmalamt schaffen. Der
Stellenwert der "Stadt des Kindes" in kultur- wie
architekturhistorischer Hinsicht ist in der Fachwelt unumstritten. Sie
ist ein in Österreich einzigartiges Beispiel für eine internationale
Architekturströmung, die mit Namen wie Alison und Peter Smithson und
Aldo van Eyck verbunden ist. Charakteristisch für diese Architektur
ist die souveräne Verbindung von klassischen und anti-klassischen
Prinzipien und ein besonderer sozialer Anspruch, der jedoch nie in die
Banalität des nur gut Gemeinten kippt. Die "Stadt des Kindes"
vermittelt die Absichten ihrer Zeit, lässt sich aber - wie jede große
Architektur - nicht wirklich aus ihnen erklären oder gar auf sie
reduzieren.

Umso befremdlicher ist eine vom Präsidenten des Denkmalamts, Gregor
Rizzi, verfasste Stellungnahme, dass "ein öffentliches Interesse an
der Erhaltung nicht gegeben" sei. Die "Stadt des Kindes" hätte, so
Rizzi in seiner Begründung, "ihre inhaltliche sozialpädagogische
Widmung verloren, die als Identitätsträger in sozialhistorischer
Hinsicht auch einen Teil der Bedeutung ausmachte". Dem Objekt sei in
seinem "gegenwärtigen Baubestand zwar durchaus architektonische
Bedeutung beizumessen, doch kann sie angesichts der für die weitere
Existenzfähigkeit des Baukomplexes absehbaren unumgänglichen
Veränderungen nicht die Grundlage für ein öffentliches Interesse an
der Erhaltung abgeben".

Der Zirkelschluss ist evident: Weil eine bevorstehende Umnutzung das
Objekt gefährde, könne es leider nicht geschützt werden. Rizzi beruft
sich dabei auf einen Paragrafen des Denkmalschutzgesetzes, der besagt,
dass ein Denkmal nicht unter Schutz gestellt werden kann, wenn es nach
den Maßnahmen zu seiner Erhaltung so verändert wäre, dass ihm keine
Bedeutung als Denkmal mehr zukäme. Dieser Passus bezieht sich aber
ausdrücklich auf Maßnahmen, die durch den "statischen oder sonstigen
physischen Zustand" erforderlich werden und nicht auf die Folgen einer
Umnutzung.

Das Denkmalamt wird nicht darum herumkommen, sich auch in Österreich
ernsthaft mit Baudenkmälern der jüngeren Vergangenheit auseinander zu
setzen. Nach der kürzlich angekündigten Unterschutzstellung der Z-
Filiale von Günther Domenig aus dem Jahr 1979 muss auch die Debatte
über die "Stadt des Kindes" neu aufgerollt werden. Ein
Denkmalschutzbescheid würde den guten Absichten aller Beteiligten den
Rücken stärken. Die Arwag als Projektträger hätte damit kaum ein
Problem: Sie hat am Meiselmarkt und bei der Remise Kreuzgasse
bewiesen, dass sie durchaus im denkmalgeschützten Bestand zu agieren
versteht.

2004-08-20


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